Unsere Lage ist alles andere als komfortabel Interview mit Volker Wieland
Am 17. November sprach Professor Volker Wieland von der Goethe-Universität in der Hochschule in Hachenburg zum Thema „Energiekrise, Inflation und Rezession: Was zu tun ist“. Danach äußerte sich der Wirtschaftswissenschaftler, der von 2013 bis 2022 auch Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung war, im Interview.
Herr Professor Wieland, warum haben Ihrer Meinung nach viele Notenbanken rund um den Globus zu spät die Zinswende eingeleitet?
Sie haben letztlich gedacht, sie könnten durch eine Kostendruckinflation hindurchschauen. Meines Erachtens gab der Anstieg der Inflation, der Inflationserwartungen sowie der Risiken höherer Inflationsraten bereits im Sommer 2021 ausreichend Anlass, um die Zinswende einzuleiten. Zudem hat auch die Taylor-Zinsregel für die USA und die Eurozone ein Signal für Zinserhöhungen gegeben. Ich bin dabei nicht der Meinung, die Notenbank müsse auf jeden Ausschlag der Verbraucherpreise reagieren, der von den Energiepreisen herrührt.
Was ist für Sie entscheidend?
Für die Berechnung der Taylor-Regel ziehe ich die Kerninflation ohne Energiepreise oder den BIP-Deflator heran. Der BIP-Deflator bildet die Preise für Güter und Dienstleistungen, die im Euroraum produziert werden, umfassend ab. Da Erdöl und Erdgas weitgehend importiert werden, blendet er deren Preise aus. Dementsprechend ist die inländische Inflation zwischen 2013 und 2019 schneller angestiegen als die mit dem HVPI gemessene Verbraucherpreisinflation. 2022 fällt der Anstieg dagegen weniger stark aus. Ich hatte bereits in einem Forschungspapier für die Sintra-Konferenz der EZB im Jahr 2020 dafür geworben, den BIP-Deflator in die Kommunikation der EZB miteinzubeziehen, stieß dabei aber auf taube Ohren.
Aktuell wird in der Euro-Geldpolitik viel über den „neutralen Zins“ der Notenbank gesprochen. Wo liegt der Ihrer Meinung nach?
Das ist schwierig abzuschätzen, weil der neutrale Zins eine unbeobachtbare und sich verändernde Variable ist. Er stellt sich in einem Gleichgewicht ein, wenn die Wirtschaftsleistung dem langfristigen Potenzial und die Inflationsrate dem Ziel der Notenbank entspricht. In den Strategieüberprüfungen der Fed und der EZB spielte er eine große Rolle. Denn Studien wie etwa die meiner früheren Fed-Kollegen Thomas Laubach und John Williams hatten seit 2009 einen Rückgang des realen Gleichgewichtszinssatzes auf nahe null Prozent geschätzt. Zuletzt sind diese Schätzwerte jedoch wieder deutlich angestiegen.
Für 2023 steht auch der Abbau der Notenbankbilanz im Eurosystem an, aktuell sind dort Wertpapiere im Wert von mehr als 7 Billionen auf der Aktivseite, vor allem Staatsanleihen. Der EZB-Rat wird darüber in seiner Dezember-Sitzung diskutieren. Welches Vorgehen erwarten Sie da?
Einerseits passen hohe Anleihebestände bei hohen Inflationsraten und noch relativ niedrigen Leitzinsen nicht mehr in die geldpolitische Landschaft. Andererseits erwarte ich, dass die EZB die Bilanz nur sehr langsam reduziert, um keine Verwerfungen aufgrund von Liquiditätsproblemen im Bankensystem oder Finanzmärkten zu riskieren.
Könnten einige Staaten der Eurozone fiskalpolitisch in Not geraten, wenn der Abbau zu hastig vorangeht?
Nicht wenn sie selbst ausreichend vorausschauend handeln. Die Mitgliedsstaaten der Eurozone sind selbst für die Tragfähigkeit ihrer Staatsfinanzen verantwortlich. Sie können diese Verantwortung nicht bei der Notenbank abgeben. Das ist der ursprüngliche Zweck des Verbots der Staatsfinanzierung durch die EZB. Haftung und Kontrolle müssen auf einer Ebene bleiben – wenn die Staaten die Souveränität über den Haushalt behalten wollen, müssen sie selbst wieder die Staatsschuldenquoten reduzieren, um die Maastricht-Grenzen einzuhalten.
Düstere Aussichten gibt es für die Notenbanken mit Blick auf die Ertragslage. Jüngst hat erst die SNB einen Verlust bekanntgegeben. Führt dies zu einem Glaubwürdigkeitsverlust für die Notenbank oder ist es gar eine Gefahr für die (finanzielle) Unabhängigkeit der Notenbanken?
Die Erträge der Zentralbanken im Eurosystem werden zurückgehen und sie könnten durchaus auch Verluste erleiden. Nicht zuletzt deshalb hat die Bundesbank Rückstellungen gebildet und auf die Überweisung eines Gewinns an den Finanzminister verzichtet. Im Extremfall einer Überschuldung einer nationalen Zentralbank würde die EZB wohl fordern, dass die jeweiligen Staaten Nachschusspflichten erfüllen. Grundsätzlich können Notenbanken auch mit negativen Eigenkapital operieren und Geldpolitik betreiben. Da sie selbst Geld schöpfen, werden sie nicht insolvent. Allerdings würde das wohl die Reputation der Notenbank in Mitleidenschaft ziehen.
Sie waren auch neun Jahre Mitglied im Sachverständigenrat. Das Gremium hat in seinem Herbstgutachten einen Anstieg des Spitzensteuersatzes ins Spiel gebracht. Die Reaktion in der Wirtschaft war teils heftig. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
Der Sachverständigenrat sorgt sich wohl, dass eine zu großzügige Unterstützungspolitik des Staats, die Nachfrage der Haushalte erhöht und damit die Inflation weiter nach oben treibt. Allerdings sind Steuererhöhungen kein sinnvoller Weg, um die Inflation zu begrenzen. Sie reduzieren nicht nur die Nachfrage der Haushalte und Unternehmen, sondern auch das Angebot, denn sie verringern die Anreize für Arbeit und Investitionen. Diese Wirkung ist eigentlich in der makroökonomischen Forschung gut dokumentiert. Die Angebotsseite der Wirtschaft ist bereits durch die Energiekrise hart getroffen. Steuererhöhungen würden dies noch verschlimmern. In Deutschland trifft übrigens eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes viele hart arbeitende Bürgerinnen und Bürger ebenso wie alle Personenunternehmen und damit den Mittelstand.
Und was halten Sie vom vorgeschlagenen Soli für die Energiewende?
Noch weniger. Die Wirkung ist dieselbe und die Wortwahl zeigt, dass es wohl keine temporäre Maßnahme bleiben würde. Wir haben ja immer noch einen Soli, der zur Finanzierung von Kosten der Wiedervereinigung eingeführt wurde, die nun aber schon mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt. Auf die negativen konjunkturellen Auswirkungen will ich gar nicht näher eingehen.
In einem Beitrag für das Handelsblatt fordern Sie heute unter anderem, sechs Kernkraftwerke in Deutschland noch zehn Jahre länger laufen zu lassen. Gibt es keine Alternativen für den Industriestandort Deutschland?
Unsere Lage in Deutschland ist alles andere als komfortabel. Wir hatten bei unserer Energiewende bis 2045 mit umfangreichen Gaslieferungen aus Russland gerechnet, die nun fehlen werden. Es wird noch sehr lange dauern, bis wir die Produktion erneuerbarer Energien sowie die Infrastruktur für ihren Import soweit ausgebaut haben, wie es für eine klimaneutrale Wirtschaft nötig wäre. Auch das Speicherproblem bei Sonne und Wind ist nicht gelöst. Im Stromsektor setzen wir nun kurzfristig wieder stark auf Kohle. Für Heizung und Industrie importieren wir zunehmend teures Flüssiggas. Deutschland hat interessanterweise große Mengen an förderbarem Schiefergas. Deshalb sollten wir Fracking zumindest erlauben. Das wäre klimafreundlicher als Fracking-Gas aus USA oder Kanada zu importieren, das zudem verflüssigt und transportiert werden muss, und würde helfen den Industriestandort Deutschland für energieintensive Produktion attraktiv zu halten. Auf die Kernkraftwerke zu verzichten, bedeutet, dass wir noch mehr Kohle verstromen müssen, die sehr klimaschädlich ist. Umgekehrt sehen wir, dass Belgien die Atomkraftwerke zehn Jahre am Netz behält, andere Länder wie Polen oder Frankreich planen neue Atomkraftwerke. Wir sind da international isoliert.
Sie selbst sind Professor an der Goethe-Universität, heute sind Sie an der Hochschule der Bundesbank. Was könnte die Goethe-Uni von Hachenburg lernen, was umgekehrt?
Das sind zwei unterschiedliche Ansätze, die man schwer vergleichen kann. In Hachenburg haben Sie einen kleinen aber feinen Studiengang, der sehr gut geführt ist und Studierende gezielt für die Bundesbank ausbildet. In der Goethe-Universität haben wir eine Universität mit sehr großem Lehrbetrieb, an der aber auch die Grundlagenforschung ein sehr starkes Gewicht hat. Es kommt aber immer wieder vor, dass einzelne Hachenburg-Absolventen zu einem späteren Zeitpunkt ein forschungsorientiertes Studium mit Promotion an der Goethe-Universität anschließen.
Danke für das Gespräch.
Das Interview führte Matthias Endres.