Botschafter Pohl: Europäische Sicherheitspolitik nach der „Zeitenwende“
Eberhard Pohl, ehemaliger Ständiger Vertreter und Botschafter, hat an der Hochschule der Bundesbank einen Vortrag gehalten. Der Besuch des von 2015 bis 2019 amtierenden Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bot Lehrenden und Studierenden die Gelegenheit, sich aus erster Hand über den aktuellen Stand der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu informieren.
Pohl, der die Bundesrepublik Deutschland von 2010 bis 2014 als Botschafter in Ankara repräsentierte, begann seinen Vortrag mit einem Zitat aus der Regierungserklärung von Olaf Scholz: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents
.“ Mit dem Überfall auf die Ukraine „zertrümmert [Putin] die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte“, so der Bundeskanzler drei Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges.
Nach der Begrüßung durch Rektor Professor Erich Keller skizzierte Pohl seinen Vortrag anhand der folgenden Fragen: Welche Sicherheitsordnung ist es eigentlich, die mit dem Überfall auf die Ukraine zerstört worden ist, und wie stellt sich der Westen auf die neue Sicherheitslage ein? Pohl zufolge gibt es drei wesentliche Prinzipien des Systems gemeinsamer Sicherheit in Europa, die aufgrund der Helsinki-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris aus dem Jahr 1990 Konsens waren. Dazu gehörten die Achtung von Souveränität und Unverletzlichkeit von Grenzen, und damit verbunden die Absage an Interessensphären und das Recht eines jeden Staates, seine Sicherheitsarrangements frei zu wählen (1); die kooperative Organisation der gemeinsamen Sicherheitsordnung, insbesondere durch Abrüstung, Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und militärische Zusammenarbeit (2); und schließlich Demokratie und Menschenrechte als grundlegende Werte und Organisationsprinzipien der europäischen Staatenordnung (3). Seit der Jahrtausendwende sei diese europäische Sicherheitsarchitektur jedoch erodiert, wie Pohl anhand des Schicksals einer Vielzahl multi- und bilateraler Abrüstungs-, Rüstungskontroll- und Kooperationsvereinbarungen aus der Zeit nach dem Kalten Krieg konstatierte. Viele dieser Vereinbarungen seien entweder gekündigt oder nicht mehr verlängert worden. Diese Entwicklung habe schließlich im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gemündet. Die NATO-Russland Grundakte von 1997 lese sich heute „wie von einem anderen Stern“.
Eine neue Spaltung Europas entlang der russischen und weißrussischen Grenze entstehe, sagte Pohl abschließend. Die EU habe sowohl der Ukraine als auch Moldau den Kandidatenstatus angeboten und mit allen europäischen Staaten außer Russland und Weißrussland die sogenannte Europäische Politische Gemeinschaft ins Leben gerufen. Die NATO werde im kommenden Jahrzehnt die kollektive Verteidigung priorisieren, während das zuvor dominierende internationale Krisenmanagement an Bedeutung verlieren werde. Finnland und Schweden träten der NATO bei, sobald die Türkei zustimme, sagte Pohl.
Pohl schloss mit der Einschätzung, dass sich auf nicht absehbare Zeit eine mehr oder weniger scharfe sicherheitspolitische und militärische Konfrontation in Europa abzeichne. Das autokratisch regierte und revisionistische Russland stehe europäischen Staaten gegenüber, die für eine freie, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung einträten. Es bleibe in dieser Lage wichtig, die Grundprinzipien der überkommenen Sicherheitsordnung hoch zu halten und ihnen so weit wie möglich Geltung zu verschaffen. Sie hätten durch den russischen Angriffskrieg nichts an ihrer Richtigkeit und Bedeutung verloren.
An der Hochschule der Bundesbank in Hachenburg sind Vortragende aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik regelmäßig zu Gast. Eberhard Pohl sei auf Nachfrage der Studierenden eingeladen worden
, sagte Professor Urs Lendermann, der auch die Diskussion im Anschluss an den Vortrag leitete. Als Fazit der Diskussion bleibt festzuhalten, dass die „Zeitenwende“ eine Rückbesinnung der zuletzt eher wirtschaftsorientierten Außenpolitik auf strategische und sicherheitspolitische Ziele eingeläutet hat.