„Die Hürden für Zuwanderer sind zu hoch“ Interview mit Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrats, an der Hochschule der Bundesbank in Hachenburg anlässlich seines Vortrags am 17. April 2023 zum Thema "Lässt sich der demografische Wandel bewältigen? Arbeitsmarkt-, Zuwanderungs- und Rentenpolitik bis 2035"
Herr Professor Werding, Sie plädieren dafür, ab 2031 zwei Drittel der steigenden Lebenserwartung in ein späteres Renteneintrittsalter zu verwandeln. Warum plädieren Sie dafür, wo doch aktuell schon die Rente mit 67 existiert?
Die Regierung hat zwei Haltelinien versprochen, ein Rentenniveau von mindestens 48% in Relation zum Gehalt und eine Beitragsobergrenze von 20% bei der Rentenversicherung. Diese Kombination ist unrealistisch. Dafür müsste der staatliche Zuschuss zur Rente ab 2030 massiv erhöht werden. Älter werdende Personen später in Rente gehen zu lassen, bringt aber Schritte in beide Richtungen: höhere Renten und weniger stark steigende Beiträge.
Das leuchtet ein. Trotzdem folgt auf solche Forderungen in der Regel mediale Empörung. Worauf führen Sie das zurück?
Viele Medien schreiben über solche Vorschläge sofort in der Schlagzeile „Rente mit 69“, selbst wenn das erst in Jahrzehnten der Fall sein würde. Vermutlich muss man das kommunikativ besser begleiten. Aber auch die Politik springt da sofort ein, weil die Wähler immer älter werden.
Die Zuwanderung bietet hier eine Chance, um den demografischen Wandel zu bewältigen. Warum dauert die Integration in den Arbeitsmarkt, gerade bei Flüchtlingen, hierzulande so lange?
Zunächst: Bereits 2015 hat die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt viel besser funktioniert als während des Balkan-Krieges in den 1990er-Jahren. Das gilt in gleicher Weise für die Fluchtwelle aus der Ukraine. Aber: Flüchtlinge kommen auch nicht hierher, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sie fliehen wegen der Notlage in ihrer Heimat.
Aber warum verläuft die Integration in den Arbeitsmarkt auch im europäischen Vergleich hierzulande relativ schleppend?
Die rechtlichen und administrativen Hürden hierzulande sind sehr hoch, gerade wenn ich an die Anerkennung ausländischer Abschlüsse denke. Wir sollten hier nicht gleich den deutschen IHK-Abschluss einfordern, sondern die Zuwanderer in einem „Training on the job“ weiterbilden. Später kann man dann ja ein IHK-Zertifikat nachholen, damit die Zuwanderer und Zuwanderinnen auch Chancen haben, den Arbeitgeber zu wechseln.
Vielfach wird gefordert, Beamte in das Rentensystem einzubeziehen. Was halten Sie davon?
Das kann man machen, aber für die Lösung der Rentenfinanzierung bringt das gar nichts. Es ist sogar schädlich, weil Beamte in der Regel noch länger leben als andere Beschäftigte. Die Beamtenversorgung ist wiederum ein separates Problem, auch dieses System ist nicht stabil. Darum müssen sich Bund und Länder kümmern.
Viele sagen, wir könnten von den Nachbarn in der Rentenpolitik lernen, insbesondere von Österreich. Warum ist das Rentensystem in Österreich so viel besser?
Die Rentenbeiträge liegen dort um über vier Prozentpunkte höher als in Deutschland, dafür liegen die Krankenkassenbeiträge viel niedriger. Aber es gibt noch weitere Unterschiede: Österreicher und Österreicherinnen erhalten erst nach 15 eingezahlten Jahren einen Anspruch auf Rente, hierzulande geht das schon nach fünf Jahren. Und die Renten in Österreich sind an die Inflationsentwicklung gekoppelt – und nicht an die Lohnentwicklung, was in der Vergangenheit meist zu geringeren Belastungen für die Rentenkasse geführt hat.
In Japan arbeiten viele Beschäftigte auch länger. Warum klappt das bei uns nicht?
Ja, das stimmt. Die Beschäftigten arbeiten dort länger. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille: in Japan gibt es eine viel niedrige Beteiligung von Frauen und kaum Zuwanderung im Arbeitsmarkt. Auch da ist nicht alles Gold, was glänzt.
In Frankreich geht die Bevölkerung auf die Straße, wenn das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht wird. Warum ist das so?
Es geht in Frankreich bei der Rentenreform im Kern nicht um eine Änderung des Renteneintrittsalters, sondern um eine Anhebung des gesetzlichen Mindesteintrittsalters, das hierzulande bei 63 Jahren liegt.
Mit der Reform in Frankreich ist aber auch ein Abbau von Privilegien verbunden in einem tief zersplitterten Rentensystem. Deshalb betrifft diese Reform viele, und deshalb fühlen sich viele benachteiligt. Jeder hat den Eindruck, er müsse für die anderen bluten.